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Vegan, vegetarisch, flexitarisch

Modetrends oder Wege in die richtige Richtung? Wissenschaftler haben auf die Uhr gesehen. Knapp fünf Prozent seiner wachen Zeit nutzt der Homo sapiens (lateinisch der „vernünftiger Mensch“) für die Nahrungsaufnahme. Damit ist er allen Primaten weit voraus, denn die benötigen fast die Hälfte ihrer aktiven Zeit dafür, Nahrung aufzunehmen. Schlingt der Mensch, um mehr Zeit zu haben? Nein – der Mensch brät, kocht und backt. Und das schon seit mehr als einer Million Jahre. So lange ist es her, dass der Mensch gelernt hat, Feuer für sich zu nutzen. „Der Mensch ist das einzige Tier, das gekochte oder anderweitig verarbeitete Nahrung aufnimmt“, so Chris Organ von der Harvard University im Magazin „PNAS“. Der Evolutionsbiologe geht davon aus, dass sich mit dem Verzehr zubereiteter Nahrung die Überlebenschancen des Menschen deutlich verbesserten. Nicht nur das Gehirn habe von zubereiteter, aufgeschlossener Nahrung profitiert – auch eine höhere Reproduktionszahl soll damit einhergegangen sein. „Survival of the Fittest“. Dem Schmoren, Sieden und Backen sei Dank.

Bei Adam und Eva beginnen  

„Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (1. Moses 3). Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der frühchristlichen Kunst eine Feige und keineswegs ein Apfel die Frucht des Anstoßes war. Kein Braten, kein Kuchen verführte den Mann – lebten Adam und Eva vegan? Nein, sagt die Wissenschaft. Ganz sicher ist, dass die frühen Menschen sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrungsmittel aßen. Sie waren Allesfresser. Im Magen „Ötzis“, der rund 5.000 Jahre alten Eis-Mumie, fanden die Wissenschaftler überwiegend Wildfleisch, aber auch Körner und Kräuter.

Der lange Weg auf unsere Teller

Hatte Ötzi ausschließlich das gegessen, was für ihn sozusagen mit den eigenen Händen zu greifen war, ist das heute völlig anders. Bei Fleisch und anderen Lebensmittel. Rindfleisch aus Finnland, Irland, Frankreich, Südamerika, den USA oder gar Australien – alles ist möglich. Schweinefleisch aus Dänemark, Spanien oder Italien – man gönnt sich ja sonst nichts. Weihnachten Spargel aus Peru, der gemeinsam mit Kulturblaubeeren anreist, oder im Januar Erdbeeren aus Spanien und Bohnen aus Kenia – Abwechslung muss sein. Und Tomaten – die müssen wir täglich haben. Wozu gibt es Gewächshäuser in Marokko, Spanien und den Niederlanden? Ist das gesund – gesund für die Umwelt? Unstrittig nein. Weil das so ist, setzten Handel und Verbraucher zunehmend auf „regionale Produkte“.

Viel rein – wenig raus  

Der Steinbock, der vermutlich Ötzis letzte Mahlzeit bereicherte, hatte sein Futter selbst gesucht. Für seine Ernährung mussten keine Wälder zwecks Futteranbau abgeholzt werden, seine „Gülle“ verschwand umweltneutral im Boden. Und heute? Rund 33 Prozent der weltweiten Anbauflächen werden für die Produktion von Viehfutter verwendet. In der Europäischen Union liegt diese Zahl noch höher: Hier landen 60 Prozent des angebauten Getreides in den Trögen. Dieses Verfahren ist äußerst ineffizient. Für 100 Kalorien an Nutzpflanzen, die statt Menschen jetzt Tiere ernähren, erhalten wir durchschnittlich nur 17 bis 30 Kalorien als Fleisch zurück. Dem US-Landwirtschaftsministerium zufolge wäre es möglich, mit dem in den USA an Nutztiere verfütterten Getreide 900 Millionen Menschen vegetarisch zu ernähren. Also weit mehr als das Land Einwohner hat. „Jedem Bauern am Sonntag ein Huhn im Topf“, versprach Heinrich IV. (1553–1610), König von Frankreich. Massentierhaltung mit mehreren Zehntausend Hühnern, hat er sich dabei nicht vorgestellt. Die führt in der Region Weser-Ems dazu, dass jährlich mehrere Hunderttausend Tonnen Gülle in andere Teile Niedersachsens, Deutschlands und sogar ins Ausland „exportiert“ werden müssen.  

Jung, weiblich, schlau, urban

Grob gefasst ist das der Steckbrief jener Bürger, die sich zunehmend vom Allesfresser Homo sapiens absetzen und gezielt pflanzliche Produkte verzehren. Es gibt Aussagen, nach denen in Deutschland sieben Millionen Menschen, also etwa 8–9 Prozent der Bevölkerung, vegan oder vegetarisch leben. Die Zuwachsraten sind enorm. Das Marktforschungsinstitut Forsa hat in einer neueren Studie herausgefunden, dass nur noch 26 Prozent der Deutschen täglich Fleischprodukte verzehren – ein Rückgang von 8 Prozent gegen das Jahr 2015. Gemäß „Statista“ sank in Deutschland der Verzehr von Fleisch und Fleischprodukten von 63,9 kg 1991 auf 57,3 kg im Jahr 2020. Obwohl gesund, nimmt Fisch eine untergeordnete Rolle ein. Der durchschnittliche Konsum von Fisch und Fischereierzeugnissen deutscher Verbraucher summierte sich im Jahr 2020 auf rund 4,1 Kilogramm pro Kopf. Die größten Fischliebhaber sind in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein beheimatet.

Umwelt, Gesundheit und Tierwohl  

„Warum ich nicht meine Brüder esse? Einfach aus Familiensinn, das ist alles. Irgendwo muss Scham ja beginnen.“ So der Schauspieler O. W. Fischer (1915–2004). Tierwohl ist auch heute der am häufigsten genannte Grund, auf tierische Nahrung zu verzichten. Es folgen Umweltschutz und Nachhaltigkeit – gesundheitliche Aspekte stehen erst an dritter Stelle. Bei Senioren, die tierische Nahrungsmittel meiden, sind dagegen gesundheitliche Gesichtspunkte dafür vorrangig ausschlaggebend. Allerdings ist in der Altersgruppe 60+ der vegetarische Gedanke deutlich schwächer ausgeprägt als bei den 15- bis 29-Jährigen. Damit geht die Nachfrage nach pflanzlichen Lebensmitteln steil nach oben. Beflügelt wird sie zusätzlich durch die stark wachsende Zahl der flexitarisch lebenden Menschen, die häufiger zu Milch- oder Fleischalternativen greifen.

Mehr als ein Modetrend  

Minirock, Petticoat, löchrige oder total verschnittene Hosen – die Anbieter sorgen dafür, dass keiner wie im Loriot-Film „Papa ante Portas“ auf  die Idee kommt seinen Sprösslingen, den Mantel der eigenen Jugend anzudienen. Die Modeindustrie bestimmt, was „in“ ist. Anders beim Trend, weniger Nahrungsmittel tierischen Ursprung zu verzehren. Was noch vor Jahrzehnten hohlwangig umherging, tritt heute selbstbewusst und kaufkräftig auf. Auch offizielle Statistikzahlen belegen die Entwicklung. Die gewerblichen Schlachtunternehmen in Deutschland haben 2021 nach vorläufigen Ergebnissen 7,6 Millionen Tonnen Fleisch produziert. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, waren das 2,4 Prozent weniger als im Vor- jahr. Damit war die Fleischproduktion im Vorjahresvergleich seit 2017 rückläufig. Importe haben die Verbraucherbewegung zum reduzierten Fleischkonsum nicht gebremst. Insgesamt wurden 2021 in den Schlachtbetrieben 56,2 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde sowie 668,7 Millionen Hühner, Puten und Enten geschlachtet.

Weg vom alten Image

Vor 50 Jahren würde sich ein Vegetarier noch mit Schaudern abgewandt haben, wenn man ihm industriell hergestellte Produkte zum Kauf angeboten hätte. Die zu kaufen ist für die urbane junge Kundschaft heute kein Problem mehr. Denn auch Vegetarier und Veganer haben keine Zeit. Dem gewandelten Kaufverhalten der Zielgruppe kommt die Nahrungsindustrie vom Start-Up bis zum Großkonzern entgegen. So füllen veganes Hack, Hafer- und Sojamilch die Kühlregale – auch Würstchen, Aufschnitt und Schnitzel kommen ohne Fleisch aus. Zusätzlich gibt es diverse Instant-Produkte. Viele dieser fleischlosen Fleischersatzprodukte versprechen „wie Fleisch“ zu schmecken. Und um vom umweltzerstörerischen Image der Soja loszukommen, werden zunehmend heimische Hülsenfrüchte als pflanzliche Proteinspender verarbeitet. Es gibt Prognosen, dass schon in zwei Jahrzehnten Fleischersatzprodukte das Fleisch überholt haben werden. Ein Beispiel: die „Rügenwalder Mühle“, der 1834 gegründete Wursthersteller, macht inzwischen mehr Umsatz mit vegetarischen und veganen Produkten als mit klassischer Wurst.

Was so alles drin sein kann

Wer sich die Mühe macht, auf das Kleingedruckte der Verpackung industriell hergestellter Lebensmittel zu achten, wird dort Produktbestandteile entdecken, die staunen lassen. Das gilt auch für Fleischersatzprodukte. Hier eine Auswahl: Trinkwasser, Rapsöl, Grillgemüse, Carrageen, Konjak, Tarakernmehl; Bambusfasern, Gewürzextrakte, Sonnenblumenprotein, Kochsalz, Trau-benzucker, natürliches Aroma, Citrusfasern, Gewürze, Kräuter, Anthocyane, More, Carotine; Kartoffelprotein.

Kurioses zum Schluss

Ob das vom französischen König versprochene Huhn im Topf oder der Sonntagsbraten – immer gehörte Fleisch zum Essen an besonderen Tagen. Ansonsten lebte die Mehrheit der Menschen schon aus Kostengründen in der Woche überwiegend vegetarisch. Das hat sich durch die Massentierhaltung geändert. Daraus resultiert ein erbärmliches Leben für die so gehaltenen Tiere sowie Belastungen für die Umwelt und gesundheitliche Gefahren für die Konsumenten. Das Bekenntnis zum veganen oder vegetarischen Leben hat aber auch Grenzen. Denn „veganer“ Strom ausschließlich aus Fotovoltaik, Gezeitenkraftwerken oder Geothermie kann die Welt nicht retten. Ebenso wenig scheint veganes Paracetamol geeignet zu sein, das zu tun. Da hilft schon eher ein Glas veganen Weins. Denn der darf im Lauf seines Herstellungsprozesses nicht mit tierischen Produkten in Kontakt geraten sein. Er darf zum Beispiel nicht mit tierischer Galantine „geschönt“ – von Schwebeteilchen befreit – worden sein. Das tun Winzer heute allerdings selten genug. Es wird gefiltert. Noch seltener, wenn nicht nie, wurden vegane Winzer dabei beobachtet, wie sie Käfer und andere Kleinstlebewesen von den Trauben absammeln, bevor diese entrappt und gepresst werden. Bleibt ein veganer Trost. Denn gemäß Vorschrift darf das Etikett auf der Flasche nur dann die Kennzeichnung „vegan“ tragen, wenn der verwendete Kleber für das Etikett kein Casein/Kasein enthält!

Dr. Matthias Riedl ist „der“ Fachmann, wenn es um die Frage nach gesunder Ernährung geht. Das SeMa hat dem Diabetologen, Ernährungsmediziner und Internisten vier Fragen zum Trend zur veganen bzw. vegetarischen Ernährung gestellt.
Foto: © Andreas Sibler

Im Gespräch mit Ernährungs-Doc Dr. Matthias Riedl

SeMa: Die überwiegende Zahl älterer Menschen versucht, sich gesund zu ernähren. Dabei geistert immer wieder der 1973 von der „Centrale Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft“ – kurz „CMA“ kreierte Spruch „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ durch die Köpfe und landet letztlich auf den Tellern. Ein guter Ratgeber?

Dr. Matthias Riedl: Grundsätzlich ja. Es steckt viel Gutes im Fleisch und in anderen tierischen Produkten. Vor allem bei älteren Menschen sollten Fleisch, Milch und Eier auf dem Speiseplan stehen. Es gilt aber darauf zu achten, was gegessen wird. Helles Fleisch ist zu bevorzugen; scharf gebratenes, gegrilltes oder industriell verarbeitetes Fleisch sollte gemieden werden.

SeMa: Raten Sie Senioren, die bisher fast täglich Fleisch oder Fisch gegessen haben, es als Flexitarier mit dem Verzicht auf tierische Produkte an drei Tagen in der Woche zu probieren?

Dr. Matthias Riedl: Essen darf nicht zur Glaubenssache werde. Es geht beim Verzehr tierischer Produkte nicht um „überhaupt“, sondern um „wie viel“. Weniger ist da eindeutig mehr. Wer sich beim Konsum von Fleisch den „Sonntagsbraten“ in Erinnerung ruft, ist auf dem richtigen Weg.

SeMa: Worauf sollten besonders ältere Menschen achten?

Dr. Matthias Riedl: Wer seinen Fleischkonsum reduziert, kann „kostenneutral“ höherwertiges, aus am Tierwohl orientierter Haltung stammendes Fleisch kaufen. Handwerklich hergestellte Fleischprodukte wie Wurst oder Schinken sind unbedingt industriell hergestellten Produkten vorzuziehen.

SeMa: Nachdem der Trend „Weg vom Fleisch“ sich Bahn gebrochen hat, springen viele Lebensmittelproduzenten mit Fleischersatzprodukten auf den Zug auf. Neben solchen fürs Kühlregal kommen zunehmend Instant-Produkte auf den Markt. Ist das wirklich eine „gesunde“ Entwicklung?

Dr. Matthias Riedl: Eindeutig nein! Gesundes Essen entsteht immer noch auf dem kurzen Weg von frischen Zutaten über den Herd auf den Teller. Der benötigt zwar eventuell mehr Zeit – dafür enthalten die schonend zubereiteten Speisen ohne Zuschlagsstoffe alles, was der Mensch braucht. Ob mit oder ohne Fleisch gilt: Die Wirkung der bei industrieller Herstellung von Lebensmittel verwendeten „Hilfsmittel“ ist besonders hinsichtlich ihres Einflusses auf die Darmflora längst noch nicht ausreichend überprüft worden.

 

Nicht nur im Fernsehen – gesund essen mit der App

Kaum ein Lebensbereich ist so stark immer neuen Trends unterworfen wie unsere Ernährung. Dabei ist sie der Schlüssel zur Vermeidung und Heilung vieler Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck. Darum hat Food-Doc Matthias Riedl, bekannt aus der NDR-Show Ernährungs-Docs, eine App entwickelt, mit der er Menschen helfen möchte, die sich ernährungsbedingt in ihrem Körper nicht wohlfühlen. Die myFoodDoctor-App hilft dabei, Essgewohnheiten so zu verändern, dass der Körper das bekommt was er braucht, ohne lästige Diäten und Jo-Jo-Effekt. Besseres Wohlbefinden, weniger Medikamente, Gewichtsabnahme und sogar Heilung von Diabetes Typ 2 und anderen Indikationen ist damit möglich. Die App ist im Google Playstore und im Appstore von Apple erhältlich.

 

F. J. Krause © SeMa

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